Pflegeforschung: Nischenwissenschaft oder Schlüssel zur Gesundheitsversorgung?

Zu Beginn des Podcasts wird die Frage aufgeworfen, warum die Pflegewissenschaft in Deutschland trotz ihrer Relevanz für das Gesundheitssystem nach über 25 Jahren immer noch ein "Nischendasein" fristet. Prof.In Dr.In Gabriele Meyer, Universitätsmedizin Halle, führt dies auf die fehlende systematische Förderung der Disziplin zurück. Im Vergleich zu anderen Fachbereichen wie der Allgemeinmedizin oder Geriatrie hat die Pflegewissenschaft noch immer keine spezifische Forschungsförderung und leidet unter einer unzureichenden Postgraduiertenförderung. Sie beschreibt die Situation wie folgt:

„Es gibt kaum strukturierte Postgraduiertenförderung und wir dümpeln so mehr oder weniger vor uns hin. Der gesellschaftliche Wert der Pflegewissenschaft wird nicht verstanden oder auch nicht ausreichend kommuniziert.“ - Gabriele Meyer

Ein weiterer Punkt, der die Entwicklung der Pflegewissenschaft behindert, ist die Entkopplung von Wissenschaft und Praxis. Pflegende in der Praxis begegnen den Pflegewissenschaftler oft mit Skepsis, was darauf zurückzuführen ist, dass es wenig Austausch zwischen diesen beiden Bereichen gibt. Die Wissenschaft bleibt oft "Gästin", wie es Meyer ausdrückt, und wird nicht als integraler Bestandteil der Praxis wahrgenommen.

Pflegewissenschaft an Hochschulen – Lehre statt Forschung?

Ein weiteres Problem ist die Struktur der Pflegewissenschaft an deutschen Hochschulen. Von den 175 Professuren in der Pflegewissenschaft sind nur 25 an Universitäten angesiedelt, was die Forschungskapazität stark einschränkt. Der Großteil der Professuren befindet sich an Hochschulen für angewandte Wissenschaften, die eine hohe Lehrbelastung haben. Dies führt dazu, dass wenig Zeit für Forschung bleibt.

Prof. Dr. Martin Müller, Universitätsklinikum Heidelberg, betont, dass die Akademisierung der Pflege zwar begrüßenswert ist, aber auch neue Herausforderungen mit sich bringt:

„Die hohe Lehrbelastung an den HAWs behindert die Entwicklung unserer Disziplin. Wir haben aktuell von diesen 175 Professuren insgesamt nur 25 Stellen an Universitäten und davon nur zwölf an medizinischen Fakultäten.“ - Martin Müller

Diese geringe Zahl an Professuren an forschungsstarken Universitäten bedeutet, dass die Pflegewissenschaft in Deutschland auch in der Akutversorgung bisher wenig präsent ist. Es fehlen strukturelle Möglichkeiten für Pflegewissenschaftler:innen, klinische Forschung zu betreiben, die tatsächlich in der Praxis Anwendung findet.

Internationale Perspektiven: Vorbilder aus dem Ausland

Ein interessanter Aspekt der Diskussion ist der Vergleich mit internationalen Ansätzen. Besonders das Gesundheitssystem in Großbritannien dient hier als Vorbild. In Großbritannien ist Forschung ein integraler Bestandteil des Gesundheitssystems und es gibt klare Karrierepfade für Forschende aus allen Gesundheitsberufen, einschließlich der Pflege. Prof. Dr. Sascha Köpke, Universität zu Köln, schildert seine Erkenntnisse wie folgt:

„In Großbritannien ist es völlig normal, dass Pflegewissenschaft und Pflegeforschung als gesellschaftlich anerkannte Fächer wahrgenommen werden. Es gibt klare Vorgaben und Karrierepfade für Pflegewissenschaftler:innen, die im Gesundheitssystem Forschung betreiben.“ - Sascha Köpke

Im Gegensatz dazu ist die Pflegeforschung in Deutschland weitgehend von der klinischen Praxis getrennt. Es fehlen sowohl die strukturellen Voraussetzungen als auch die gesellschaftliche Akzeptanz, um die Pflegewissenschaft stärker in die Gesundheitsversorgung zu integrieren.

Im Podcast wird die Forderung nach der Einführung eines Chief Nursing Officer (CNO) in Deutschland thematisiert, einer Position, die bereits in Ländern wie den USA etabliert ist. Ein CNO würde als hochrangige Pflegefachperson die Pflegewissenschaft und -praxis auf nationaler Ebene vertreten und direkte Einflussmöglichkeiten auf gesundheitspolitische Entscheidungen haben. Diese Rolle könnte, wie es international bereits praktiziert wird, die Stimme der Pflege in der Gesundheitsversorgung stärken und strategische Impulse zur Weiterentwicklung des Pflegeberufs geben.

What is a Chief Nursing Officer / Chief Nurse Executive?
Learn about the dynamic and exciting position of chief nursing officer / chief nursing executive and find out how you can get started on this rewarding career path.

Wege aus der Nische: Wie kann Pflegeforschung gestärkt werden?

Eine zentrale Frage besteht darin, wie die Pflegeforschung in Deutschland gestärkt werden kann. Unsere Gäst:innen sind sich einig, dass es einer besseren strukturellen Förderung und einer stärkeren Vernetzung zwischen Wissenschaft und Praxis bedarf. Gabriele Meyer sieht in der Förderung von klinischen Professuren, ähnlich wie in der Allgemeinmedizin, einen wichtigen Schritt:

„Wir brauchen systematische Förderprogramme für die Pflegewissenschaft, vergleichbar mit denen der Allgemeinmedizin. Das könnte durch Praxisnetzwerke, Professuren und eine gezielte Forschungsförderung geschehen.“ - Gabriele Meyer

Ein weiteres Modell, das aus dem Ausland übernommen werden könnte, sind sogenannte „Clinician Scientist“-Programme. Diese Programme, die in der Medizin bereits erfolgreich sind, bieten Wissenschaftler:innen die Möglichkeit, sowohl in der Forschung als auch in der klinischen Praxis tätig zu sein. Dadurch wird eine enge Verzahnung von Forschung und Praxis gewährleistet, die für die Pflegewissenschaft dringend notwendig wäre.

Im Podcast wird auf die Aussschreibung der Deutschen Krebshilfe für zwei klinische Pflegeprofessuren im Bereich der Onkologie eingegangen. Diese Professuren sollen die Verzahnung von Pflegewissenschaft und klinischer Praxis vorantreiben und bieten eine besondere Gelegenheit, Pflegeforschung direkt in die Versorgung von Krebspatientzu integrieren. Die Ausschreibung gilt als Pilotprojekt, um zu zeigen, wie wichtig wissenschaftlich fundierte Pflege in der klinischen Praxis ist.

Scoping-Workshop: Ein Schritt in die richtige Richtung

Ein Beispiel für die Bemühungen, die Pflegeforschung in Deutschland voranzutreiben, war ein Scoping-Workshop, der von den drei Gäst:innen des Podcasts organisiert wurde. Der Scoping-Workshop, unterstützt von der Volkswagen Stiftung, zielte darauf ab, die Pflegeforschung mit klinischer Relevanz in Deutschland zu stärken. Martin Müller fasst das Ziel des Workshops zusammen:

„Unser Ziel war es, auszuloten, was der aktuelle Stand der Pflegeforschung in der Akutversorgung in Deutschland ist und zu überlegen, wo wir hinmüssen, um die Pflegeforschung klinisch relevanter zu machen.“ - Martin Müller
Erkenntnissen aus der Pflegeforschung den Weg in die klinische Praxis erleichtern
Die VolkswagenStiftung hat einen „Scoping Workshop“ zur Stärkung der klinischen Pflegeforschung in Deutschland gefördert. Die Organisatoren der Medizinischen Fakultäten der Universitäten Heidelberg, Halle-Wittenberg und Köln sind zufrieden: In konstruktiver Atmosphäre entstanden Lösungsansätze und Zukunftsstrategien.

Es wurden Expert:innen aus Pflegewissenschaft und Praxis zusammengebracht, um Lösungen für die enge Verzahnung von Forschung und klinischer Pflege zu entwickeln. Auf Grundlage der Erkenntnisse, die auch von internationalen Expert:innen geteilt wurden, diskutierten die Teilnehmenden über Ansätze, wie Forschungsergebnisse effektiver in die Praxis übertragen werden können. Der Workshop ist Teil einer längerfristigen Strategie, den Weg von der Pflegeforschung in die klinische Anwendung zu erleichtern. Die Ergebnisse werden in einem Policy Paper veröffentlicht, das Impulse für die Weiterentwicklung der Pflegewissenschaft in Deutschland liefern soll.

Fazit: Pflegewissenschaft als unverzichtbarer Teil des Gesundheitssystems

Die Pflegewissenschaft in Deutschland hat noch einen weiten Weg vor sich, um sich als unverzichtbarer Teil des Gesundheitssystems zu etablieren. Es wird deutlich, dass es viele strukturelle und gesellschaftliche Hürden gibt, die überwunden werden müssen. Doch es gibt auch positive Entwicklungen: Die Akademisierung der Pflege und die wachsende Anerkennung der Pflegewissenschaft in der Praxis sind Schritte in die richtige Richtung.

Unsere Gäst:innen sind optimistisch, dass sich die Situation in den kommenden Jahren verbessern wird. Mit gezielter Förderung, einer besseren Vernetzung von Wissenschaft und Praxis und internationalen Vorbildern könnte die Pflegewissenschaft in Deutschland in Zukunft eine größere Rolle in der Gesundheitsversorgung spielen. Wie Gabriele Meyer es treffend formulierte:

„Wir bewegen uns in dynamischen Zeiten und ich habe Hoffnung, dass wir in Zukunft eine bessere Forschungsförderung und eine stärkere Anerkennung der Pflegewissenschaft erleben werden.“ - Gabriele Meyer

Die nächsten Schritte, wie das Policy Paper, das aus dem Scoping-Workshop hervorgegangen ist, werden zeigen, wie die Pflegeforschung in den kommenden Jahren weiterentwickelt werden kann. Es bleibt zu hoffen, dass die Politik die Forderungen der Pflegewissenschaftler:innen ernst nimmt und die notwendigen strukturellen Veränderungen unterstützt.

Unsere weiteren Inhalte zum Thema:

ÜG055 - Living Lab (Prof. Dr. Jan Hamers, Dr. Silke Metzelthin & Ramona Backhaus, PhD) - Übergabe
Wir sprechen über das niederländische Living Lab und wie damit Forschung und Praxis vernetzt werden und somit die Pflege verbessern.

Veranstaltungshinweise und Aufrufe

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Für ihre Promotion zum Thema „MIND“ (moralischer Distress unter Intensivpflegepersonen in Deutschland) sucht Larissa Forster (larissa.forster@uniklinik-freiburg.de) Intensivpflegende für eine anonyme Erhebung. Eine Teilnahme ist über folgendem Link möglich: https://zks-redcap.uniklinik-freiburg.de/surveys/?s=7ECY97FLCNJ9AH43
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Für die virtuelle Expert:innen-Konferenz am 15.11.2024 im PICo-Projekt (www.uni-wh.de/pico 3) werden noch Expert:innen, d.h. Pflegende mit oder ohne Personalverantwortung und Leitungspersonen aus der stationären Altenpflege in Deutschland gesucht. Bei Interesse meldet Euch gerne mit einer kurzen E-Mail (pico@uni-wh.de) oder unter 02302-926809.
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Am Freitag, den 14. Februar 2025 findet der 27. Netzwerk-Workshop des DNQP zum Expertenstandard „Kontinenzförderung in der Pflege“ in Osnabrück statt. Der Expertenstandard wurde im April aktualisiert und um das Thema der Stuhlinkontinenz erweitert. Die Programmbroschüre, weitere Informationen zur Veranstaltung sowie die Möglichkeit der Anmeldung finden Sie auf der DNQP-Website.

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